Medienreise 2010
Besuch beim Elefanten
Indien
Medienreise 2010
Indien
Im November 2010 fuhr ich mit 15 Studierenden der Hamburg Media School nach Indien, um mehr über die Kultur und die Medien dieses Landes zu erfahren. Die erste Etappe führte uns in das Indian Institute of Management in Shillong. Von dort aus reisten wir anschließend nach Delhi, wo Besuche bei indischen Medienunternehmen und dem deutschen Botschafter auf dem Programm standen.
Wer Indien besucht, dem wird erzählt. Zum Beispiel von den blinden Männern und dem Elefanten. Ein Hindu sagt: Da ist ein Elefant, wie ist er? Rau, sagt der Erste und fühlt seinen Fuß. Weich, sagt der Nächste und streichelt sein Ohr. Warm, sagt der Dritte und fühlt seinen Bauch. Kalt, sagt der Vierte und berührt seine Rüsselspitze. Die Männer beginnen zu streiten und doch haben sie alle recht. „Dieser Elefant, das ist Indien!“, flüstert Sanjeeb Kakoty, Professor am Indian Institute of Management, in die Runde und zeigt uns sein weises Yoda-Lächeln.
Es ist 10 Uhr im Bundesstaat Magalaya. Ich sitze im Seminarraum. Die 30-stündige Anreise steckt in den Knochen. Ich reibe mir die Augen, als mir klar wird, dass ich gerade erst in Hamburg war, zwischendurch den Iran und Afghanistan überflog, den Himalaja links vorbeiziehen ließ und dann mit dem Auto in den äußersten Zipfel des asiatischen Subkontinents gefahren bin. Doch das hat alles seinen Sinn. Ich will Menschen begegnen, die sich mit dem Elefanten besonders gut auskennen.
In dieser Seminarwoche lerne ich einige von ihnen kennen und erfahre vieles über dieses vielfältige Land und seine Medien im Umbruch. So ist das Bruttoinlandsprodukt Indiens trotz der weltweiten Rezession erneut um 7,1 Prozent gewachsen. Gleichzeitig lebten ein Drittel der Menschen unter der Armutsgrenze. Ich sehe ein Indien im rasanten Wandel von der traditionellen Agrar- zur modernen Dienstleistungswirtschaft. Mir wird berichtet, dass ein Sari in eine Streichholzschachtel passt und das tägliche Mantra der neuen Mittelschicht genauso wichtig ist wie der Laptop und das Mobiltelefon.
„Wir sind ein neugieriges, vielfältiges und junges Land. 70 Prozent von uns sind unter 30 Jahren“, erzählt der landesweit bekannte Medienmacher Abhijit Das Gupta. Während ich diesen Satz schreibe, hat Indien zwei Kinder geboren – ein gefülltes Sportstadion wird es jeden Tag. Die riesige Bevölkerung von etwa einer Milliarde Menschen informieren, bilden und unterhalten täglich mehr als 900 Zeitungen, 250 Radiostationen und 485 Fernsehsender. Vor allem Information ist wichtig.
Immer wieder wird mir die Legende des Bettlers erzählt, der die ersten Rupien des Tages nicht etwa für Lebensmittel, sondern für seine Zeitung ausgibt. Mrinal Talukdar, Nachrichtensprecher und Chefreporter der „Assam Tribune“ berichtet: „Wer informiert ist, gilt etwas. Besonders wichtig ist die regionale Presse.“ Allerdings besteht für die Journalistin und streitbare Stimme des Nordostens, Patricia Mukhim, durchaus Anlass zur Sorge um die Qualität der Medien.
Die Abhängigkeit von Werbekunden nimmt immer weiter zu! Der investigative Journalismus wird von den Medienhäusern im Regionalen zu wenig unterstützt. Dabei sind doch unabhängige Medien so zentral für das Überleben der Demokratie“, ruft sie mit kritischer Stimme in die Runde, um dann über den Rand ihrer Brille zu blicken und mit indischer Gelassenheit hinzuzufügen: „Es gibt genug Möglichkeiten der Korrektur. Wir werden sehen und abwarten, wie es sich entwickelt.“
Der Blick aus dem Fenster ist aufregend. Frauen mit schillernden Saris und Kindern auf dem Rücken tragen Gefäße auf ihren Köpfen. Männer ziehen Wagen voller Ziegelsteine am Straßenrand, während es in den Garküchen brutzelt. Das Auge sieht Menschen, Menschen – überall Menschen. Und wo diese sind, ist auch in Indien Werbung nicht weit. Ich sehe neben neuen auch bekannte Marken auf riesigen Werbeplakaten. Logos von Vodafone und Pepsi rauschen genauso vorbei wie das indische Riesenunternehmen Tata, das von der Waschmaschine bis zum Auto so ziemlich alles produziert. Wir sind auf dem Weg zum zweitgrößten Medienhaus des Landes: der India Today Group. Ein Besuch beim Herausgeber im Bereich Digital, Shailesh Shekhar, steht auf dem Programm.
In feinstem Englisch erklärt Shekar die Strategien und Aktivitäten der Mediengruppe: „Wir bieten eine 24/7-Berichterstattung. Natürlich sind dabei mobile Angebote genauso Thema wie Webauftritte und wöchentliche Magazine. Unser Geschäft ist die Medienwelt. Solange der Leser bei uns ist, ist es uns egal, auf welchem Weg wir ihn erreichen“, sagt er. Mit Angeboten wie dem Fernsehsender ITG, der Zeitung „India Today“ oder dem Magazin „India Today Women“, nimmt das erst 35 Jahre alte Medienhaus seine Zielgruppen ins Visier. Ich frage, wie die Situation in Europa beurteilt wird: „Wir lernen vom Westen. Wir möchten, was das Internet betrifft, nicht die gleichen Fehler begehen. Darum reagieren wir schon heute auf die neuen Entwicklungen.“
Insbesondere multimediale und mobile Bezahlangebote sind hier Stichworte. Mit 36 Magazinen, sieben Radiostationen, zahlreichen kostenpflichtigen Websites, Lizenzmarken (u.a. „Auto Bild“) und Zusatzgeschäften wie Büchern und Ausbildungsangeboten – „India Today“ besitzt eine eigene Schule – rüstet sich das Haus und erreicht derzeit etwa ein Drittel der Mittelschicht Indiens. Das sind circa 350 Millionen Menschen. „Es geht um Glaubwürdigkeit. Der Inhalt ist König“, sagt Shekar.
Ich denke jetzt an Shillong, die Regionalzeitungen, die Forderungen nach einer besseren Medienwelt und werde nachdenklich. Wenig später kommt die Frage auf, wie „India Today“ strukturell aufgestellt ist, insbesondere, was die Arbeit der Journalisten in den unterschiedlichen Bereichen betrifft. „Wir planen derzeit einen Newsroom auf sechs Stockwerken, alle Marken und alle Mediengattungen arbeiten dann zusammen. Ein Flur fasst 450 Journalisten.“ Ich stelle mir bei diesem Mega-Newsroom die erbitterten Diskussionen über die Ausstattung von Arbeitsplätzen, den Raum für die Entfaltung im Speziellen sowie die redaktionelle Unabhängigkeit der Titel im Allgemeinen in Deutschland vor. Hier in Indien ist vieles möglich.
Dabei komme es vor allem darauf an, Eigenkreationen für die Inder zu schaffen. „Wir drucken nichts einfach nach. 60 Prozent unserer Inhalte sind lokal kontextualisiert“, betont er, während hinter ihm das Logo der Mediengruppe leuchtet. In diesem Moment kommen mir die drei Cs in den Sinn: Cricket, Cinema und Crime. „Genau darum geht es, Sexualität ist auch noch ein Thema.“
Ich bin irritiert. Bin ich nicht ins Morgenland der Ingenieure und der IT gereist? Ist das nicht das neue Indien? Statt dem Internet geht es um Print, um Nachhaltigkeit und vor allem um Demokratie. Was ist hier los? „Ein Mac oder ein iPad ist für uns Inder viel zu teuer“, erzählt mir der Student Parminder Saluja, während wir in seinem winzigen Studentenzimmer am alten Laptop Lady Gaga hören. „Die Verbindung ist oft noch viel zu langsam. Wir lieben Facebook, aber Videos online schauen kannst du vergessen.“
Er lacht und sieht mit seinem bordeauxfarbenen Turban ganz erhaben aus. Das Internet ist hier noch kein Massenthema. Derzeit existieren landesweit nur etwa acht Millionen Breitbandanschlüsse. Wer keinen eigenen Zugang hat, begibt sich ins „Cybercafé“ – in der Regel eine Hütte mit einem Computer. Insgesamt nutzen nur 52 Millionen Inder das Internet aktiv. Primär sind es junge Männer und Studierende. Wenn das Netz jedoch genutzt wird, dann richtig: 134 Minuten sind es zurzeit im Schnitt pro Tag – mit steigender Tendenz. Was hier in Bewegung kommt, wird mir am letzten Tag der ersten Woche in Indien klar: „Sehen Sie den Berghang dort drüben“, sagt Prof. Kakoty, als wir gemeinsam am Tag unserer Abreise vor dem Campus stehen und auf Hunderte von Dächern schauen. „Wir wachsen schnell. Noch vor wenigen Jahren war er komplett grün.“
Das Haus im Diplomatenviertel weckt in mir vertraute Gefühle. Es erinnert mich an die alte Bundesrepublik und meinen Schülerbesuch Ende der Achtziger in Bonn. Bei Meissner Porzellan und Keksen sitzen ich mit meinen Reisegefährten an einer langen Tafel und spreche mit Thomas Matussek über die Medienlandschaft in Indien. „Die Inder sind streitfreudig und neugierig. Der Diskurs in den Medien ist lebendig. Die Presse hat durchaus politischen Einfluss, allerdings ist eine große Kommerzialisierung zu beobachten“, berichtet er. Besonders positiv äußert sich der Botschafter zu einer wichtigen Entwicklung: „Die Frauen holen auf – die jungen Akademikerinnen sind klasse und eine neue Hoffnung des ganzen Landes.“ Wie steht es um die wirtschaftliche Attraktivität Indiens? „Für die deutschen Unternehmen einfach enorm.“
Die deutsche Botschaft war für mich eine erholsame Insel. Ich konnte durchatmen. Jetzt möchte ich wieder in die verwinkelten Gassen Old-Delhis eintauchen. Auf dem Weg spendet das Dach des Tuk-Tuk etwas Schatten und der Fahrtwind kühlt in der Mittagssonne. Bei Lal Qila springen wir raus. Ich lasse das Rote Fort des Mogulkaisers Shah Jahan links hinter mir und schüttele die Händler auf dem Markt ab. Ich will nichts kaufen, sondern von der Moschee Jama Masjid einen Blick auf die indische Welt werfen. Oben angekommen, eröffnet sich mir aus der Vogelperspektive des Minaretts endlich der herrliche Blick auf die Menschen und Kulturen Old-Delhis, die friedlich unter der Dunstglocke ihrem täglichen Treiben nachgehen.
Voller Bilder im Kopf, komme ich am letzten Tag der Reise im Künstlerviertel Hauz Khas bei einem Chai Tea zur Ruhe. Ich blättere in den Zeitschriften und sehe die 50 wichtigsten Inder in der GQ. An der Spitze steht der Adobe-Gründer Shantann Narayen. Weiter hinten folgen der allgegenwärtige Bollywood- Star Shah Rukh Khan und der Autor Salman Rushdie. In der „Marie Claire“ finde ich eine bemerkenswerte Strecke über Indiens Geschäftsfrauen – die Urban Women.
Es finden sich Anzeigenmotive von Versace und Citizen ebenso wie von der Firma Cladró, die Design-Ganeshas aus Porzellan bewirbt – Lifestyle auf die indische Art. Ich lehne mich zurück, während die Stadt eine Dusche nimmt und der Regen an die Scheibe klopft und frage mich: Was bleibt von dem Abenteuer Indien? Für mich war es ein Experiment mit ungewissem Ausgang. Ich habe den Elefanten besucht, ihn ein wenig besser kennengelernt und mich mit ihm angefreundet. Ich weiß jetzt mehr über seine Menschen und Medien. Dies wird für die Zukunft helfen. Ich freue mich, dieses freundliche, verrückte, großartige, schreckliche, kluge, nervige und begeisternde Land kennengelernt zu haben.